Sätze und Passagen

 

 

uns gegenüber

 

Von den Tieren sind wir abhängiger als sie von uns: sie unsere Geschichte, wir ihr Tod. Wenn es sie nicht mehr gibt, werden wir sie alle mühselig aus uns erfinden. (Elias Canetti, 1949)

 

Entschuldigung! Könnt ihr mir mal für eine Minute das Nichts abnehmen, bis ich mich hier im Hauseingang ausgeweint habe? (István Kemény)

 

 

Zuerst sei da immer ein Bild, erst dann kämen die Wörter, sagt István über das Entstehen seiner Gedichte, in einem Gastgarten sitzend, im ehemals jüdischen Viertel von Budapest, Anfang Mai dieses Jahres, der Abend ist schwül, der Himmel gewittrig. Uns gegenüber, kaum getrennt durch eine niedere bröckelnde Mauer, eine langgezogene Hausfront, deren Grau beinahe zur Gänze überdeckt wird vom massigen Körper eines Stiers, breit und flächig und in pompösen Farben über die gesamte Wand gemalt, ein rätselhaftes, trotz seiner Farbigkeit stummes und in dieser Stummheit Raum greifendes Bild, das uns mehr und mehr den Blick abzieht, es ist von diesem Tier nicht mehr abzusehen, es nimmt uns für sich ein, es bestimmt, wovon wir den Abend lang reden werden.

Wir haben für das auf die Hausfront gebannte und auf obszöne Weise ratlos scheinende Tier keine Erklärung, so wie wir auch, am Ende, für uns keine Erklärung haben, und vielleicht darum möchten wir uns wiederfinden im ortlosen Blick dieses Tiers, das uns nicht meint und uns dennoch betrifft. Als würde es, sagt István ein Gedächtnis bewahren, ein gleichsam paradoxales Gedächtnis, das nach hinten wie nach vorne reicht, als würde es in seinem äußersten Inneren ein Wissen haben, das wir nie teilen werden, als sähe es mehr als wir. Ihm bleibt das Geheimnis, sagst du, und uns das Nichts.

Und als könnten wir diesem Nichts noch etwas entgegensetzen, stürzen wir in ein virulentes Erinnern, das zunehmend an Schärfe gewinnt, wir tasten uns zurück, zu den frühen Bildern der Tiere, die unser Aufwachsen bestimmt haben, unser Hineinwachsen in die menschliche Art, unsere Einübung in das Verstehen von Welt. Da war Laika, sagt István, die ins All geschossene Moskauer Straßenhündin, zum Mythos geworden und als solcher allgegenwärtig in seinen frühen Jahren im kommunistischen Ungarn, die Weltraummissionshündin, die beinahe jede sozialistische Kindheit in den 60er Jahren begleitete und die er in seiner kindlichen Vorstellung wieder zum Leben brachte, zu jenem Leben, das sie, in einen eisernen Käfig gesperrt, im Weltall hat lassen müssen, kurz nach dem Durchbruch in die Schwerelosigkeit. Laika habe seine Träume bewacht, mit Laika sei er eingeschlafen und mit Laika sei er aufgewacht, und mit Laika sei er auf imaginäre Reisen gegangen, weit hinaus in die Phantasie, in ein Jenseits der Welt der Erwachsenen, in ein Jenseits des Ostens, der einförmigen Grauheit, der begrenzten Ausblicke. Und vielleicht, sagt István, habe gerade Laika den größten Anteil daran, dass er Schriftsteller wurde, weil sie ihm nichts weniger erfahrbar gemacht habe als die rettende Kraft der Phantasie. Dir dagegen, sagst du, war der Weltraum zu weit, du hattest stattdessen den Ausblick nach Westen, und du hattest den direkten Blick, einen Blick aus dem Fenster der großmütterlichen Wohnung, auch dort eine gegenüberliegende Hausfront, ein langgezogenes barackenähnliches Gebäude, das sich Viehverwertung nannte, wo an Dienstagen und an Donnerstagen die Rinder angeliefert wurden, immer frühmorgens, immer im Verborgenen, so dass seither, sagst du, Dienstage und Donnerstage deine Zeitrechnung bestimmen, und wie du dort ans Fenster gezwungen warst, frühmorgens und im Verborgenen, und nicht wegsehen konntest, wenn die Rinder über die breiten Zufahrtsrampen geprügelt wurden, mit intakten, in nichts zu verunsichernden Gesten der Treiber und Schlächter, von Schreien und Rufen und Gelächter begleitet, einem unmenschlichen Gelächter, das dir in den Ohren blieb auch über die Nacht hinaus. Und wie dieses Gelächter überlagert wurde vom in deinen Ohren sich ebenfalls festsetzenden Brüllen der Rinder, in dem tierisches Entsetzen lag, vor allem aber ein Erstaunen über diese auf kleinstem Raum erfahrene größte Gewalt. Und wie dieses Brüllen sich unauflösbar verband mit dem Lachen deiner Großmutter, das in jenes der Treiber und Schlächter einzustimmen schien, wenn sie dein Weinen nicht verstehen wollte, weil, was hier aufs Unmenschlichste getrieben, geprügelt, gezerrt und getötet wurde, ja nur Tiere seien, deren Angst sie mit diesem Nur ebenso herabwürdigte wie sie deinen Schmerz damit herabwürdigte, deinen Schmerz über das unmenschlich Menschliche, das dir greifbar wurde, ohne begreifbar zu sein. Und wie also das großmütterliche Nur, das die Tiere meinte, sich deckte mit dem Nur, das dieses seltsame Kind meinte, dieses Kind, das du warst und das alles sein wollte, nur nicht dieses Kind, das am Fenster stehen und hinsehen musste. Und wie, was für deine Großmutter Normalität war, für dich ein unhintergehbarer, in seiner Totalität kaum ertragbarer Schrecken war, und wie dir weiter an den frühen Morgen der Dienstage und der Donnerstage in aller Wachheit vor Augen stand, wie sehr Normalität und Schrecken zusammenfallen konnten. Und dass du, nachdem der Schlachthof dir zum Maß geworden war für die Erfassung der Welt, die Heiligenbilder deiner Großmutter in der Küchenlade vertauscht hast mit den Karten aus deinem Tierquartett, so dass der Heilige Antonius zum Elefanten wurde und der Heilige Ignatius zum Breitmaulnashorn, (jener Art, by the way, die vor wenigen Wochen ausgestorben ist), und dass diese Transformation der Heiligen in Tiere deine kindliche Rache für alle Entrechteten dieser Welt gewesen sein sollte, eine Rache, die unverstanden blieb und die also ins Leere lief. Und wie auch du dann, nach dieser missglückten Rache, dich in die Phantasie retten wolltest, in die Phantasie einer weltumspannenden Revolte der Tiere, die darin bestehen sollte, dass sie zu gebären aufhören würden, eine akkordierte Gebärverweigerung der Tiere, das war eine dich bis heute begleitende Vorstellung, die zu einer fortgesetzten gedanklichen Obsession wurde, nachdem deine gottesfürchtige Großmutter die frisch geborenen Jungen deiner Katze mit einer eisernen Mistschaufel erschlagen und in der großen Mülltonne vor dem Haus, der Viehverwertung gegenüber, entsorgt hatte und du dich von diesem Moment an eingebunden fühltest in das formlose Wesen einer unteilbaren Scham darüber, Mensch zu sein.

Und als könnten wir dieser Scham noch etwas entgegensetzen, stellen wir uns vor, dass das auf der Hauswand uns gegenüber hingebreitete Tier uns längst schon aus dem Blick gegeben, dass es längst schon von uns abgesehen hat, so wie all die unserer menschlichen Selbstverständlichkeit tagtäglich zum Opfer und zum Verschwinden gebrachten Arten längst von uns abgesehen haben, deren Abwesenheit, sagst du, wir erst bemerken werden, wenn keine andere Art als die eigene uns mehr ansehen wird. Und wir stellen uns vor, wie wir, zwei vereinzelte Wesen einer an sich selbst zutiefst erschöpften Gattung, die wir doch immer noch als die unsere begreifen müssen, in verlassene Manegen ziehen, um uns zu zeigen, um uns noch einmal ins Bild und zur Darstellung zu bringen, in einem Zustand von wüster Ruhelosigkeit, inmitten von erodiertem Gelände, inmitten von aufgelassenem Brachland und einem in die Erstarrung gebannten Aufruhr einer heillos ausgeschlachteten Welt. Und wir stellen uns vor, wie wir vor verlorenen Publikumsrängen Kreise drehen, uns wechselweise überholend, weil doch jeder immer der erste sein will, und wie wir in einer maßlosen Diesseitigkeit durch die selbstgeschaffene Leere ziehen, schreiend dabei und beinahe brüllend vor einem abwesenden Publikum, wie wir uns drehen und wenden und winden, um uns von unseren besten Seiten zu zeigen, uns wechselweise übertrumpfend in der Demonstration unserer ganzen prachtvollen Menschlichkeit, und wie dann der erhoffte Applaus ausbleibt, wie sich maßlose Stille um uns ausbreitet, uns zur Gänze erfasst, und wir im tonlosen Echo dieser Stille nur noch langsam in uns selber kreisen, zwei menschliche Wesen in ihrer unvollkommensten Form, müde geworden, aber immer weiter sich darstellen müssend, um für uns selbst noch die letzten Zuschauer zu sein, die letzten Zeugen einer Erinnerung, die keiner sonst mehr bewahrt.

(Veröffentlicht in: SALZ 172/2018 (Themenheft: was Tiere tun)

 

 

 

Rede zur Gedenkveranstaltung beim antifaschistischen Mahnmal Salzburg, 27.1.2017

Ein Dankeschön für die Einladung, hier zu sprechen. Ich bin gebeten worden, es mit einem Bezug zur Gegenwart zu tun. Und beginne dennoch beim Wort „Erinnern“, einem Wort, das - in dem Kontext gedacht, in dem wir hier in diesem Moment stehen - Unruhe auslöst, weil es mich an die Grenzen des Denk- und Fühlbaren bringt. Dabei möchte sich doch die Funktion von Erinnern geradezu gegenteilig verstehen: ein scheinbar Vergangenes in die Gegenwart zu holen, um uns einzubringen in einen größeren Zusammenhang, indem wir uns dessen vergewissern, was vor uns war, um uns in eine Kontinuität zu stellen damit und um uns abzusichern, nach hinten wie nach vorn. Weil es, wo es ein Vorher gibt, auch ein Nachher geben muss. Wir müssen uns also erinnern, damit wir so etwas wie Zukunft haben.

Wie aber ein Erinnern ertragen, das uns eben genau aus dieser Kontinuität wirft, das uns unhintergehbar vorführt, dass, was wir als Zivilisation ausgeben, keinen Rückhalt hat in der historischen Wirklichkeit, dass es damit auch keine Versicherung abgeben kann für die Zukunft.

Immerhin die lineare Zeitrechnung, in der wir uns bewegen, ist gnädig. Sie ist so gnädig wie trügerisch. Sie suggeriert, dass Geschichte als Abfolge zeitlich begrenzbarer, also abschließbarer Ereignisse bestimmt werden könnte. In Kulturen mit zyklischen Geschichtsauffassungen dagegen wird jede Gegenwart begriffen als Wiederholung, als Variation und Wiederkehr eines schon Gewesenen. Tzvetan Todorov, bulgarischer Sprachwissenschafter, erklärt den Genozid an den indigenas Nord- und Lateinamerikas unter anderem dadurch, dass die Ankunft der Weißen als etwas so radikal Anderes erlebt wurde, dass sie nicht mehr einzuordnen war auf der Basis der geschichtlichen Überlieferung – ein noch nie Dagewesenes, empfunden als Schweigen der Zeichen, als Schweigen der Götter. Die Demoralisierung der indigenen Gemeinschaften war die Folge, der Genozid an ihnen ein umso Leichteres. Für die Kolonisatoren dagegen, die nicht zuletzt unsere heutige Weltordnung mitbegründet haben, war die Eroberung Amerikas vor allem eine Entdeckung des Anderen. Das „America first“, die Losung, die der neue US-amerikanische Präsident ausgerufen hat, meint also ein Land, das ursprünglich von den Anderen bewohnt war. Die heutigen Amerikaner wiederum sind ursprünglich mehrheitlich Europäer. Hübsch zu sehen, wie wenig haltbar nationale, ethnische und geopolitische Zuordnungen sind. Und wie gewaltsam sein kann, was ihnen an Geschichte vorausgeht.

Unsere Zeitrechnung also ist gnädig. Sie ermöglicht in Kategorien von Damals und Heute zu denken. Sie ermöglicht so auch eine Gewöhnung an das Unfassbare, an die Zäsur, die der Holocaust darstellt in der Geschichte der Humanität. Hand in Hand mit der Gewöhnung geht die Annahme, dass wir es mit einem abgeschlossenen und singulären Ereignis zu tun haben, das mittlerweile schon ein historisches sei. Die Annahme kann nur gelingen, wenn wir die strukturellen Bedingtheiten ausblenden, die dazu geführt haben. Wenn wir ausblenden, wie sehr das Unfassbare des Holocaust einherging mit Voraussetzungen, die als Normalität galten, wie sehr also Schrecken und Normalität deckungsgleich werden können.

Vielleicht brauchen wir Erinnern auch dazu: dass es uns immer wieder neu aus der Gewöhnung kippt und aus dem, wie Herta Müller es nennt, „Ticken der Norm“.

Laut Erhebungen aus den Jahren 2016 meinen an die 70% der Bevölkerungen von Deutschland und Österreich, man möge „die Geschichte ruhen lassen“. Man meint damit nicht die nationalen Heldengeschichten, die unsere kollektiven Identitäten begründen sollen, sondern die nationalsozialistische. Das muss nicht dazu gesagt werden, die Worte sind ja immer im Verbund mit dem Nichtgesagten. Man möge also, so 70 % der Bevölkerungen Deutschlands und Österreichs, die nationalsozialistische Geschichte ruhen lassen. Als wäre Geschichte ein Subjekt, das man so einfach schlafen legen und ruhig stellen kann. Als wäre sie nicht das, was die Konsequenz aus unzählbarem menschlichen Handeln oder Nichthandeln ist, das wir als unbegriffenes und unbegreifbares Erbe mit uns tragen. Geschichte ruht nicht. Und am allerwenigsten ruht sie in Frieden.

Staat und Politik wissen das durchaus und haben das Erinnern auch zu ihrer Sache erklärt, institutionalisiert, ritualisiert, jährlich begangen. Es steht für sie in keinem Widerspruch dazu, Grenzzäune zu fordern oder Obergrenzen festzulegen für Menschen, die anderswo gehen müssen, aus unterschiedlichen, fast immer aber zwingenden Gründen. Die Suche nach Menschenwürde kann also, wo diese Suche die Anderen betrifft, auch zur Illegalität erklärt werden. Politisch ist das nur dort möglich, wo es eine gesellschaftliche Bereitschaft gibt, eine „Kultur des Ressentiments“ (György.Konrád) zu schaffen. Ohne eine solche wäre die Shoa, wäre keine Form des Faschismus möglich geworden. Und ich sehe in unserer Gegenwart nicht wenige, und das meint zu viele Zeichen für eine solche Bereitschaft zu einer „Kultur des Ressentiments“. Wir kennen die Diskurse, wir kennen die Narrative, die dazu gehören. Wir kennen ihre strukturellen Ähnlichkeiten, egal wo sie geführt werden. Wir kennen die Beschwörungen ostentativer Zugehörigkeit und der so schemen- wie schimärenhaften Konstrukte nationaler und ethnischer Einheiten - auch wenn diese jeglicher Realität widersprechen. Und wir kennen die Folgen einer Politik, die auf dem irrationalen Gefühl der Benachteiligung des Eigenen gründet. Wir kennen auch die Beschwörung der Szenarien von Überflutung durch – wie immer definierte – Andere. Wir kennen die dazugehörige Metaphorik der Wellen und der Ströme, und wir wissen, dass diese Metaphorik nicht nur sprachlicher Ungenauigkeit geschuldet ist, sondern dass sie vielmehr eine bewusste Verschiebung von Bedeutung schafft. In der Logik dieser Sprache werden tausende Biografien gleich, sie werden zu gleichen Anderen, gegen die es eine vermeintliche Einheit des „Wir“ zu setzen gilt.

Die Diskurse funktionieren. Und sie werden zunehmend mehrheitsfähig, gewöhnlich, normal. Weil der Mechanismus der Separierung der Einen und der Anderen so umfassend anwendbar ist. Selbst das Gedenken, in dem wir uns hier zusammenfinden, ist – auf einer anderen Ebene - davon nicht ausgenommen, selbst die über die Jahrzehnte geschaffene Gedenkkultur unterscheidet anerkannte Opfergruppen und solche, die nicht bedacht werden – wie bspw. die Frauen, die wegen „verbotenen Umgangs“ mit Kriegsgefangenen verfolgt wurden und bis heute nicht rehabilitiert sind. (Den Hinweis verdanke ich Gert Kerschbaumer).

Ich gehöre zu denen, die man Nachgeborene nennt. Die Sprache ist so gnädig wie die Zeitrechnung. Auch in ihr gibt es ein Danach, das den Charakter eines Anfangs haben möchte. Meine erste Einübung in dieses Danach passierte beim Streunen in meiner Herkunftsstadt Linz, es sind erratische Bilder, Bilder von stillgelegten Schienen in kaum belebten, grauen Vierteln, Schienen von früheren Lastenzügen der Voest, der ehemaligen Göring-Werke. Welche Lasten damit transportiert, wofür sie gebraucht und welche Weichen damit für wen gestellt worden sind, habe ich mich erst später gefragt. Das Bild der Schienen aber, rostig und überwuchert von Unkraut und Gras, ist mir geblieben und zu einem wortlosen Sinnbild von Geschichte geworden, Sinnbild für das Untergründige und Unterschlagene, über das man Unkraut hat wachsen lassen und Gras. Eine zweite Einübung in das Danach ging weiter, ein paar Kilometer hinaus aus der Stadt, nach Mauthausen, ich war ungefähr zwölf. Der Eindruck des Lagers war einer, hinter den es kein Zurückgehen gab, war ein frühes Gefühl einer bodenlosen Unheimlichkeit. Was die Schienen noch zuließen an Phantasie, war hier zur unhintergehbaren Nähe von Tatsachen geworden.

Seit ein paar Jahren weiß ich, dass mein Großvater Koch im KZ  Dachau war. Ich habe ihn nicht gekannt, nur als Leerstelle, die sich erst in diesem Jahrhundert füllen sollte. Es hat ihm nie jemand nachgefragt, auch üble Nachrede hatte er keine. Das Berliner Archiv bestätigt seinen Eintritt in die NSDAP am 1.Mai 1938. Auch diese Abschrift löst Unruhe aus in mir und die Erinnerung daran, wie ich als Jugendliche etwa einen Sommer lang, Wochenende um Wochenende, nach Mauthausen gefahren bin, heimlich, als würde ich Verbotenes tun, und ohne zu wissen warum, aus einer Dringlichkeit heraus, deren Anlass mir nicht zugänglich war. Wie die Landschaft rundum von unerträglicher Schönheit war und wie ihr Blühen die Verstörung noch vergrößerte. Wie ich mich auf eine unbenennbare Weise eingebunden fühlte in das formlose Wesen einer Schuld, die greifbar war, ohne mir begreifbar zu werden.

Schuld ist nicht teilbar. Wirksam ist sie dennoch, und sie hält sich dabei nicht an die Grenzen der Generationen. Auch deshalb braucht Erinnern zwei Richtungen, um nicht zur Pathosformel zu werden. Es muss die Paradoxie leisten, nach hinten wie nach vorne gerichtet zu sein. Weil jede Geschichte potentiell auch das in sich trägt, was ihr folgt, weil jedes Danach immer auch das Davor ist von etwas, das wir noch nicht kennen, aber gerade noch gestalten können.

Wie aber ließe sich Erinnern zur gelebten Praxis machen, zum Teil einer Grundhaltung, die Sprechen, Denken und Handeln affiziert, und zum Referenzraum, aus dem heraus neue Erzählungen geschaffen werden können, neue Narrative, die unser Menschsein betreffen und das, wie wir uns selbst und wie wir die Anderen verstehen wollen. 

 

 

 

Über / Essen

"Alles, was gegessen wird, ist Gegenstand der Macht. Der Hungrige fühlt leeren Raum in sich (...) Der Essende nimmt zu an Gewicht, er fühlt sich schwerer. Es liegt darin eine Prahlerei; er kann nicht mehr wachsen, aber zunehmen kann er, an Ort und Stelle, vor den Augen anderer." (1)

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Und was, wenn etwas Obszönes im Akt des Essens läge. Wenn, was uns als selbstverständliche Alltäglichkeit, als unhinterfragte Notwendigkeit, als Mittel zum Genuss, zum gesellschaftlichen Austausch, zur sozialen Distinktion oder zur Einübung in die Sozialisation gilt, eine brutale, eine rohe, eine verstörende Seite hätte. Wenn, kaschiert durch Etikette, sublimiert und normiert durch Sitten, Regeln und Benimm, ritualisiert, erotisiert und aufgeladen durch vielfältige Symbolik oder sakralisiert in der Eucharistie, der Akt des Essens letztlich ein monströser Vorgang bliebe, bei dem wir uns - in einer kleinen, scheinbar harmlosen Verschiebung der Grenze zwischen Innen und Außen - aneignen und einverleiben, was uns nicht gehört / was nicht zu uns gehört.

Ein in seiner Struktur kolonisatorischer Akt also, mit dem wir eintreten in eine heimliche Intimität mit uns selber - letztlich sind wir beim Essen so allein mit uns, wie wir es später einmal sein werden, am Ende - und aus dem wir Befriedigung ziehen, eine zwar immer vorläufige, letztlich haltlose, für Momente aber tief empfundene Befriedigung, die sich ausbreitet in unseren Körpern, seinen geheimen Gängen, Windungen und Verdauungssystemen, die ohne unser Zutun ihre Arbeit verrichten. Als könnte dieser barocke Vorgang des Aufnehmens, Verdauens und Ausscheidens, in dem sich alles irdische Werden und Vergehen abbildet, uns hinwegretten über das Ungestillte und Unstillbare und Unerlöste, das unsere absurde Gattung der Menschheit ausmacht, über den Hunger und die Gier, die mit uns auf und in die Welt gekommen und die - wie jedes Begehren - nie endgültig zu beruhigen sind. Wir werden doch so einfach nicht satt.

Vielleicht also geht es bei aller ästhetischen Inszenierung, bei aller rituellen Verbrämung, in die wir unsere Nahrungsaufnahme kleiden, darum, uns darüber hinwegzutäuschen, dass ihr letztlich nichts anderes zugrunde liegt als der atavistische Trieb, Beute zu machen. Und weil diese Beute nicht mehr direkt zu fassen ist - schließlich haben wir auch Produktion und Verteilung unserer Nahrung in den Dienst der kapitalistischen Ökonomie gestellt - und wir sie meist nur mehr vermittelt in industriell gefertigter, künstlich konservierter und geschmacksverstärkter Form zu uns nehmen, müssen wir die symbolischen Funktionen des Essen verstärken, überhöhen, pflegen. Wäre demnach - und  die Krankheitsbilder der Anorexie und Bulimie sprechen dafür - Essen nicht auch begreifbar als Komplex, in dem sich eine zunehmende Desintegration unseres Selbst manifestiert und zugleich nach Auswegen sucht? Wäre der Rückgriff auf Askese oder auf orale Lust zu verstehen als Versuch, einen Rest leiblich-sinnlichen Erlebens zu bewahren, als Kompensation der Erfahrung von Sprachlosigkeit und Ent-Mündigung, von Sinnverlust und Leere?

 

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Freilich haben wir gelernt, das gekonnte Hantieren mit Messer und Gabel zwischen Gier und Mund zu schieben, haben die orale Lust zu einer Lebensnotwendigkeit herunterstilisiert, haben unserer Nahrungsaufnahme einen Überbau geschaffen, den wir als Teil unserer Zivilisiertheit begreifen wollen. Was aber, wenn darunter und dahinter sich dennoch nichts anderes verbergen würde als Aspekte der "kannibalischen Ordnung"? (2), die darin besteht, dass wir vom Anderen essen, um es zum Eigenen zu machen?

Die Tiere, die, weil wir sie essen wollen, gezüchtet, geschlachtet und zu jährlich 300 Millionen Tonnen konsumierbarem Fleisch verarbeitet werden, fressen ihrerseits 800 Millionen Tonnen Soja und sonstige Futtermittel im Jahr. Vier Fünftel der weltweit landwirtschaftlich genutzten Flächen werden für Haltung und Fütterung der Tiere, die wir essen wollen, benötigt. Die europäische Fleischproduktion allein beansprucht 13 Millionen Hektar südamerikanische Anbauflächen für Futtermittel. Setzt sich der gegenwärtige Trend fort, wird der Fleischkonsum bis Mitte unseres Jahrhunderts auf eine halbe Milliarde Tonnen steigen. (3) Steigen wird damit auch die Verschubmasse, der "Ausschuss", den die Fleisch- und Milchindustrie produziert: die männlichen Küken etwa, die unmittelbar nach dem Schlüpfen selektiert und verschreddert werden. Oder die für die Milchindustrie unproduktiven Bullenkälber, deren Vergasung günstiger kommt als deren Aufzucht.

Dimensionen, die nicht zu fassen sind, es sei denn als Ausdruck von Hybris und von einem pervertierten Verständnis dessen, was Leben und Überleben bedeuten. Vielleicht auch als Ausdruck dafür, wie Ordnungen dahin drängen, sich selbst zu übersteigen, sich selbst zu verschwenden, um schließlich und endlich (endlich) in sich zusammenzufallen.

Unverdaubar auch die Bilder. Eine Dokumentation über den US-amerikanischen Konzern Tyson-Foods, der wöchentlich 42 Millionen Tiere schlachtet, beginnt mit einer hübschen Idylle: südamerikanische Wälder, abgeholzt und nach zwei, drei Jahren extensivster Nutzung zum Brachland geworden, tot wie die Rinderleiber, die faschierten Körper, die entsorgten Reste dessen, was wir essen werden. Ein Greifarm fährt in die Knochen, hebt die Skeletteile, hievt sie im rechten Winkel in einen hohen Container, wirft sie ab. Im Container türmen sich Tonnen von Skeletten, gebrochenen Knochen, zermalmten Wirbeln. An einem Hebekran befestigt, schiebt sich ein Mahlwerk darüber, hebt sich und senkt sich ab, zerstampft die Knochen mit einer Wucht, der nichts standhalten mag, hebt sich und senkt sich ab, zerstampft die Knochenmasse zu Mehl, hebt sich und senkt sich ab, das Mehl wird an Fische und Hühner verfüttert, das Rinderblut dem Futter für Kälber zugesetzt, auch das ist die kannibalische Ordnung, wo Eines vom Selben isst. Der Bericht ist unterlegt mit Arien aus Nabucco, von Callas gesungen. Drei Kulturleistungen: die Erfindung von Greifarmen, Mahlwerken, Opern.

 

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(Aber: Wie wunderbar, dass in jedem System auch die Möglichkeit zu seiner Über- oder Unterschreitung liegt. Ich hatte mir früh schon sehr herzlich gewünscht, Hungerkünstlerin zu werden. Eine Passion und Profession daraus zu machen, langsam, planmäßig und gezielt an Gewicht zu verlieren, Woche um Woche und Monat um Monat an meinem Verschwinden zu arbeiten, um teilzuhaben an der Leichtigkeit der Welt, um in sie einzugehen und in ihr aufzugehen. Und um dann wiederum, in nächsten, ebenso gezielten und planmäßigen Schritten, wieder an Gewicht zuzunehmen, mich aufzublasen, aus der Form zu gehen und aus der Norm zu fallen durch einen nach allen Richtungen sich ausdehnenden, maßlos wuchernden, nicht mehr fassbaren, nicht mehr kontrollierbaren karnevalesken Leib, mit dem sich teilhaben lässt an der Fülle der Welt, mehr noch, der selbst diese Fülle ist.)

 

Anmerkungen:

1) Elias Canetti: Zur Psychologie des Essens. In ders.: Masse und Macht. Fischer Tb, Frankfurt 1980, S. 243, 247)

2) Jaques Attali (Campus Verlag, Frankfurt 1981) verfolgt in seiner Sozialgeschichte der Medizin "die kannibalische Ordnung" als konstante, sich in verschiedensten Inszenierungen und Maskierungen abbildende Grundstruktur aller menschlicher Gesellschaften. Diese bestehe in der Absonderung des Übels (d.i. des Todes), durch seinen Verzehr, seine Aneignung.

3) Zu den Bedingungen und Auswirkungen der Massentierhaltung, zu Schlachtbetrieben und Schlachtungsvorgängen, zu ökonomischen Kontexten und ökologischen Folgen des Fleischkonsums vgl. Jonathan Safran Foer: Tiere essen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010

 

Veröffentlicht in: SALZ 160 - Themenheft: Essen